Die Reisefreiheit, die für uns als selbstverständlich gilt und von der wir uns während der Corona-Pandemie größtenteils verabschieden mussten, kehrt endlich schrittweise zurück. Zumindest für die meisten europäischen Staaten gelten die Reisewarnungen ab dem 15. Juni nicht mehr. Die deutschen Flughäfen bereiten sich schon auf eine Zunahme des Flugverkehrs vor. Die ersten Ferienflieger sind bereits auf Mallorca, der Lieblingsinsel der Deutschen, gelandet.
2019 reisten fünf Millionen Deutsche in die Türkei
Allerdings bleibt die Reisewarnung der Bundesregierung für die Türkei nach wie vor bestehen. Für die diesjährige Sommerurlaubssaison in der Türkei, die bei den Deutschen in der Beliebtheit nach Spanien und Italien an dritter Stelle rangiert, wäre eine Aufhebung der Reisewarnung höchst berechtigt. Nachdem 2018 bereits 4,5 Millionen Bundesbürger Urlaub in der Türkei machten, reisten 2019 über fünf Millionen Deutsche dorthin. Die türkische Reisebranche trumpft vor allem mit ihrem unschlagbaren Preis- und Leistungskonzept sowie den Sicherheitsstandards bei den deutschen Urlaubern auf.
Deutsche Arbeitsplätze in Gefahr: Umsatzeinbußen von fast 20 Milliarden Euro
Neben der Bundesregierung sollte gerade auch der Bundesaußenminister in der Lage sein, zu erkennen, ob er nicht viel eher auch die deutschen Tourismus-Industrie hemmt, wenn er darauf beharrt, die Reisefreiheit in Staaten außerhalb der EU zu beschneiden. Denn nicht zuletzt sind auch Tausende von deutschen Arbeitsplätzen in der ohnehin schon durch die Coronakrise arg gebeutelte, deutsche Tourismusbranche von den derzeitigen unverhältnismäßigen Maßnahmen betroffen.
Nach Berechnungen von Norbert Fiebig, Präsident des Reiseverbandes DRV, führen die Beschränkungen infolge der Corona-Pandemie zu Umsatzeinbußen für Reisebüros und Veranstalter von Mitte März bis Ende August von insgesamt fast 20 Milliarden Euro. Allein die Verlängerung der Reisewarnung für außereuropäische Länder, zu denen beliebte Sommerziele wie die Türkei, aber auch Tunesien und Ägypten gehören, bedeute für Juli und August neun Milliarden Euro Umsatzeinbuße, so Fiebig. In der heutigen, globalisierten Welt hängen Wirtschaftszweige so eng beieinander und sind so stark voneinander abhängig, dass zu kurz gedachte, eindimensionale und einseitige Entscheidungen auch einem persönlich schaden können. Selbst Marcel Klinge, der tourismuspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, hat dies erkannt und bezeichnet die Reisewarnungen als einen „Todesstoß für die deutsche Reisewirtschaft“.
TÜV Süd prüft türkische Hotels
Es gibt keine nachvollziehbaren medizinischen oder wissenschaftlichen Gründe für den Entschluss, die Reisewarnungen für die Türkei aufrechtzuerhalten. Denn die Türkei gehört zu den wenigen Staaten der Welt, die die Pandemie relativ milde überstand und durch die sehr früh getroffenen Maßnahmen der Regierung vergleichbar wenig Tote zu verzeichnen hatte. Die Türkei hatte zuletzt (Stand: 18. Juni) 184.031 Corona-Infizierte, davon waren 156.022 wieder genesen. Durch die Pandemie waren 4.822 Tote zu beklagen. Zum Vergleich: In Deutschland starben zum selben Zeitpunkt 8.946 Menschen an dem Virus. 190.126 Personen wurden infiziert. Das bei Deutschen beliebte Reiseziel Italien musste 238.159 Infizierte und 34.514 Tote verkraften. In Spanien gab es 245.268 Infizierte und 27.136 Tote. Sogar im Nachbarland Frankreich, in dem sich 158.641 Menschen an Covid-19 infizierten, starben 29.603 Personen. Es wird deutlich, dass die Türkei im Kampf gegen die Corona-Pandemie im internationalen Vergleich sehr gut dasteht. Zudem hat das Land am Bosporus zeitnah vielerlei Sicherheitskonzepte für Kultur- und Reiserouten, Strände und Hotels entworfen. Die Corona-Maßnahmen der türkischen Tourismus-Industrie werden überdies vom deutschen TÜV Süd überprüft. Die Touristen werden schon an den Flughäfen und Hotels mit Wärmebildkameras empfangen. Viele Hotels haben auf Einweggeschirr umgestellt und halten, sofern die Spa-Bereiche keinen ausreichenden Platz bieten, diese derzeit geschlossen. Sicherheitsabstände gibt es nicht nur an den Hotelpools und am Strand, sondern auch an den Buffets der Herbergen, in Kneipen, Cafés und Restaurants. Die Betreiber der Tourismusanlagen vermitteln ihren Gästen während ihres Aufenthaltes in der Türkei somit ein Gefühl der Sicherheit. Das Gesundheitssystem der Türkei entwickelte sich in den letzten Jahren zu den besten der Welt. Ein bedeutender Teil ausländischer Gäste in der Türkei sind Gesundheitstouristen. Viele Ausländer kommen in die Türkei, um medizinische aber auch kosmetische Operationen durchführen zu lassen. Der gute Ruf der Türkei im Medizin- und Gesundheitssektor zeigt sich auch darin, dass das Land seit etwa zehn Jahren über die modernsten und am besten ausgestatteten Krankenhäuser verfügt. Zahlreiche Privatkrankenhäuser haben Filialen im Ausland, so z.B. im Nahen- und Mittleren Osten, auf dem Balkan, in Mittelasien oder im Kaukasus sowie in Afrika. Zudem gehört die Türkei zu den Staaten mit der meisten Anzahl an Intensivbetten.
Keine medizinische-, sondern politische Entscheidung
Die Aufrechterhaltung der Reisewarnung für die Türkei, die, falls die Entscheidung nicht revidiert wird, bis voraussichtlich Ende August andauern soll, ist daher zutiefst emotional und politisch. Denn es gibt mehrere bilaterale Streitpunkte, die schon seit langer Zeit auf eine Lösung warten. Die meisten dieser Kontroversen, wie zum Beispiel das sogenannte Flüchtslingsabkommen (EU-Türkei-Abkommen), die Sicherheitsoffensiven der Türkei in Nordsyrien und im Nordirak oder die Rolle des Landes in Libyen und nicht zuletzt im Mittelmeer sind politischer Natur. Auch Fragen in Bezug auf das Verhältnis zwischen der in Deutschland als terroristische Vereinigung eingestufte PKK sowie der FETÖ und Deutschland führen nach wie vor zu Unstimmigkeiten beider Staaten. Keine Frage: Die türkische Wirtschaft ist auf Urlauber aus der EU, allen voran aus Deutschland, angewiesen. Außenminister Maas darf sich jedoch die Frage stellen, ob es ein probates Mittel ist, auf diese sicherheitspolitischen Streitpunkte mit wirtschaftspolitischen Hebeln zu reagieren. Denn: Wie vernünftig kann eine Politik sein, die eine ökonomisch instabile Türkei in Kauf nimmt und auf der anderen Seite von einem intakten Europa ausgeht? Eine stabile und sichere Türkei bedeutet zugleich auch Sicherheit und Stabilität für uns in Europa. Bei der Rechnung, die uns die Bundesregierung präsentiert, gibt es freilich keine Gewinner. Würden sich aber beide Seiten auf Augenhöhe begegnen und die Interessen des Partners beachten, sähe es ganz anders aus. Beide Seiten würden davon profitieren. So aber werden die Konflikte emotional und leider auf dem Rücken von Urlaubern ausgetragen, die sich ein ganzes Jahr lang auf den Sommer gefreut haben. Sie müssen jetzt diese Probleme buchstäblich ausbaden.