Mitte Februar wurden zahlreiche Mitglieder einer antimuslimischen und rechtsterroristischen Gruppierung bei einer bundesweiten Razzia festgenommen. Viele Menschen waren erleichtert, dass Deutschland vor einem weiteren islamfeindlichen und rechtsterroristischen Anschlag verschont geblieben war. Diese Erleichterung sollte bedauerlicherweise nur von kurzer Dauer sein. Denn in der Nacht vom 19. Februar sind in der hessischen Stadt Hanau neun Menschen erschossen worden. Nach der Serie von Bombendrohungen und Angriffen auf mehrere Moscheen der letzten Wochen sind wir am absoluten Tiefpunkt angekommen: Dem Auslöschen von Leben! Dem Töten! Der Zerstörung!
Deutschland durchlebt eine seiner grauenvollsten Zeiten. Die menschenverachtenden, muslimfeindlichen Taten von Hanau machen uns sprach- und fassungslos. Es fällt schwer, diese Zeilen zu schreiben, weil Eltern urplötzlich ihre Kinder verloren haben. Es fällt schwer, weil Kinder ihre Mütter und Väter verloren haben. Es fällt schwer, weil Geschwister, Verwandte und Freunde unerwartet nicht mehr da sind.
Unter den Opfern von Hanau befinden sich auch Gemeindemitglieder von Moscheen. Auch die Moscheen in Hanau hatten zuvor Drohungen erhalten. Eltern berichten, dass sie als die ersten Eilmeldungen publik wurden, ihre Söhne und Töchter anriefen, um zu fragen wo sie sich befänden und baten sie, nach Hause zu kommen. Das zeigt, dass sich die Angst und Unsicherheit immer mehr in unsere freie Gesellschaft ausbreitet. Genau das bezwecken diejenigen, die unsere Gesellschaft spalten und unser funktionierendes demokratisches System vernichten wollen.
Seit Jahren mahnen migrantische oder muslimische Organisationen vor der stetig wachsenden Zahl von Drohungen, Angriffen und Diskriminierungen. Die statistisch erfassten Zahlen, die bei weitem nicht das wahre Ausmaß der Übergriffe, Gewalttaten, Beleidigungen oder Schmähungen zeigen, dürften nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Das Unheil wird unaufhörlich vorausgesagt, findet jedoch oftmals wenig Gehör. Diese „Kassandrarufe“ müssen endlich ernst genommen werden. Zivilgesellschaftliche Verbände, Medien, Politik, Justiz- und Sicherheitsbehörden sowie Familien-, Bildungs- und Erziehungsbehörden müssen endlich Hand in Hand ein Zeichen setzen und gegen menschenfeindliche Gewalt aufstehen. Forschungsergebnisse, wonach rechte, antisemitische, islamfeindliche, rassistische und menschenverachtende Gedanken und Überzeugungen immer weitere Teile der gesellschaftlichen Mitte erfassen, zeigen uns, dass wir größere Anstrengungen unternehmen müssen, um diese, unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft zu schützen. Unsere liberal- solidarische Ordnung muss sich wehrhaft gegen seine Feinde zeigen. Kurz: Wenn wir darüber sprechen, dass „die Mitte” nach rechts rückt, dann sind wir auch verpflichtet, uns in unserem eigenen Umfeld nach menschenverachtender, muslimfeindlicher und rassistischer Gesinnung umschauen. Dann bedeutet das leider auch, dass zivile und staatliche Akteure nicht von Extremismus gefeit sind.
Es ist erstaunlich, welche Parallelen es zwischen dem Oslo- und Christchurch-Attentäter, dem Rechtsterroristen von Halle und dem rechtsextremen Amokschützen von Hanau gibt. Auch die rechtsterroristische Gruppe S., Mitte Februar aufflog, kann man hierzuzählen. Bei allen spielte das Internet eine besondere Rolle. Die terroristischen Netzwerke bilden sich nicht mehr persönlich und lokal, sondern immer mehr virtuell und global. Die Radikalisierung spielt sich im Schutze der vermeintlichen Anonymität im Netz ab.
Man sollte fragen, ob Teile der Sicherheitsbehörden gerade bei Rechtsextremen zu lange beobachten und zu spät in den Prozess der Radikalisierung eingreifen. Die Tradition des langen Beobachtens hat sich möglicherweise beim Rechtsextremismus nicht bewährt, sondern ins Gegenteil verkehrt, weil dies zu sehr dem Erstarken und Vernetzten der rechten Szene beigetragen hat. Verwunderlich ist auch, warum immer wieder auch Polizeibeamte in dieser Szene Anschluss finden. Wie kann es sein, dass Teile der Sicherheitsbehörden eigene Mitarbeiter gerade an diese Szene verlieren, sie unterstützen oder relativieren?
Die Erinnerungskultur, mit der wir nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen sind und erzogen wurden, scheint sich nicht ausreichend bewährt zu haben. Sie benötigt eine Aktualisierung, ein Update. Auch Türkenfeindlichkeit, Islamhass und antimuslimischer Rassismus gehören aus heutiger Sicht zu unserer Erinnerungskultur. Ebenso darf der Kampf gegen Rassismus sowie der Antifaschismus nicht allein dem linken Spektrum überlassen werden. Parteien wie die CDU, CSU und FDP sind mehr denn je gefordert. Die Tat von Hanau darf uns nicht spalten, sondern muss uns zusammenführen.