Die Gefahr einer zweiten Welle besteht nach wie vor. Und diese Gefahr ist gegenwärtig. Wir dürfen jetzt nicht lockerlassen und uns in Sicherheit wiegen. Wir sollten stets auf der Hut sein. Jederzeit kann es erneut ausbrechen. Nein, ich spreche nicht, wie viele denken könnten, vom Coronavirus, das unseren Alltag im Moment weitgehend beherrscht. Es geht um den „NSU 2.0“. Und: Es geht um den Neonazi-Terror in Deutschland, der schon hunderte Tote auf dem Gewissen hat. Allein seit der Wiedervereinigung verzeichnen Organisationen, die sich gegen rassistische Gewalt und rechten Terror einsetzen etwa 200 Morde, die auf das Konto von rechtsextremistisch motivierten Tätern gehen sollen. Bedauerlicherweise seien jedoch nur etwas mehr als 80 Fälle behördlich und damit offiziell anerkannt, so die Amadeu Antonio Stiftung, die sich unter anderem für Opfer rechtsextremer Gewalt einsetzt. Auf die große Differenz zwischen der Zählung von Todesopfern rechten Terrors durch staatliche Behörden und von unabhängigen Organisationen oder Journalisten weist die Stiftung schon seit Jahren hin. Allerdings mahlen die Mühlen offizieller Stellen oftmals langsamer als manche es sich erhoffen.
„NSU 2.0“ treibt weiter sein Unwesen
Seit der Urteilsverkündung des NSU-Prozesses vor fast genau zwei Jahren werden immer wieder rechtsextreme Hass- und Einschüchterungsbotschaften mit dem Kürzel „NSU 2.0“ abgeschickt. Die Abkürzung „NSU 2.0“ ist eine Anspielung auf den sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrund“, der nach derzeitigem Wissens- und Ermittlungsstand mindestens zwischen 2000 und 2007 zehn Morde und mehrere Anschläge aus rassistischen Motiven in Deutschland verübte. Eine Polizistin soll ebenso zu den Todesopfern der Terroristen gehört haben.
Schutz von Informanten wichtiger als Menschenleben?
Das Landes Hessen spielte schon beim „NSU 1.0“ eine zwielichtige Rolle. Ein Teil der Täter wurde zwar ermittelt, deren Helfer und Helfershelfer bleiben in dem Bundesland jedoch weiterhin im Dunkeln. Auch das Verhalten des ehemaligen Innenministers und derzeitigen Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU) lässt noch heute viele Fragen unbeantwortet. Bei dem Mord an dem Internetcafébesitzer Halit Yozgat (21) hatte Bouffier die Aussagegenehmigung für mehrere V-Leute, für die der Geheimdienstler Andreas Temme zuständig war, verweigert. Die Ermittler, die Temme, der denSpitznamen „Klein Adolf“gehabt haben soll,des mutmaßlichen Mordes an Halit Yozgat verdächtigten, wollten seine Informanten als Zeugen vernehmen. Dazu kam es aber nicht. Bouffier verhinderte dies. Es stellt sich die Frage, ob der Schutz von sogenannten „Quellen“ schwerer wog als die Aufklärung des Mordes an einem Menschen. Weiteres Vertrauen in die Behörden in Hessen wurde mit der Entscheidung zerstört, die NSU-Akten für 120 Jahre, also bis ins Jahr 2134 unter Verschluss zu halten. Der Entschluss sorgt noch immer für das Entstehen von Verschwörungstheorien. Auch die auf dubiose Weise ums Leben gekommenen V-Leute oder Zeugen, die im Zuge des NSU-Komplexes aussagen sollten, dienen nach wie vor als ein Anlass für Verschwörungserzählungen.
Drohungen, Mordaufrufe, Einschüchterungsversuche
Der „NSU 2.0“ wurde vor allem dadurch bekannt, dass er eine der Nebenklägerinnen und Opferanwälte des NSU-Prozesses, Seda Başay-Yıldız, massiv bedrohte. Die Juristin aus Frankfurt erhielt schon 2018 Morddrohungen. Der bzw. die Absender schrieben beispielsweise man werde „ihre Tochter schlachten“ oder dass sie nach dem Mord an Walter Lübcke als nächste an der Reihe sei. Es folgten Mordaufrufe im Internet und weitere Einschüchterungsversuche, wobei damit gedroht wird, die Mutter „abzuknallen“. Die Anwältin sowie ihre Tochter stehen seit Langem unter Polizeischutz. Derweil wurde bekannt, dass auch aktive Landes- und Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, eine ehemalige Politikerin der Grünen sowie eine Kabarettistin, Journalisteninnen und Journalisten Drohschreiben vom „NSU 2.0“ erhielten.
Hessische Polizei in der Kritik
Eines haben die Adressaten der Nachrichten gemeinsam: Die Spur führt zur hessischen Polizei. Die zum Teil nicht öffentlichen und vertraulichen Daten der Geschädigten sollen von den Dienstcomputern der hessischen Polizeibehörden stammen. Es wurde bekannt, dass die persönlichen Daten der Opfer zuvor von Polizeirechnern abgefragt wurden. Besonders Dienststellen in Frankfurt und in Wiesbaden stehen im Blickfeld der Ermittler. Wieder steht das Land Hessen, diesmal die hessische Polizei unter Kritik. Auch wenn es sich nur um Einzelfälle innerhalb der Polizei in Hessen handelt und man nicht generalisieren darf: Der Polizeipräsident Udo Münch musste inzwischen zurücktreten. Zu viele Pannen und wachsendes Misstrauen hatten sich in den letzten Jahren angesammelt. Wieso aber nicht der oberste Dienstherr der Polizei, Innenminister Peter Beuth (CDU), keine persönlichen Konsequenzen aus seinem Versagen zog, bleibt noch immer fraglich. Dass er die Verantwortung an das Landeskriminalamt delegiert und der Behörde vorwirft, nicht rechtzeitig informiert worden zu sein, zeigt nur wie der Politiker Kollegialität und Verantwortungsbewusstsein auslegt. Beuth muss nicht nur die Frage beantworten, ob es in seinem Land eine Problematik mit Rechtsradikalismus und rechtem Terror gibt. In Hessen hat sich nämlich nicht zuletzt seit dem Mord an Halit Yozgat etwas Unheimliches zusammengebraut: In Hanau hat ein Rechtsterrorist im Februar diesen Jahres neun Menschen, zumeist mit Migrationsbiographie, ermordet. Im osthessischen Wächtersbach wurde im Juli 2019 ein Eritreer von einem Rassisten niedergeschossen und schwer verletzt. Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke (CDU) wurde am 2. Juni 2019 von einem mutmaßlichen Rechtsterroristen vor seinem Haus erschossen. Wir sehen: Die Probleme, die es in Hessen gibt, sind keine Einzelfälle. Zudem handelt es sich bei den Tätern nicht nur um Einzeltäter. Es hat den Anschein, dass die Schwierigkeiten auch struktureller Natur sind. Und die gilt es jetzt anzupacken.
Wo sind die grünen Ideale hin?
Es gibt also wichtige Anhaltspunkte, dass das Land Hessen eine grundlegende Reform seiner Sicherheitsbehörden benötigt. Zum Beispiel hat das Land Thüringen nach dem NSU-Versagen eine grundlegende Reform der Sicherheitsarchitektur auf den Weg gebracht. In Hessen scheint jedoch der Wille für solch eine Reform größtenteils zu fehlen. Hessens Innenminister hat zwar einen Neustart, einen „Reset“ versprochen. Falls damit aber lediglich nur der Austausch von Computer- und Zugriffspasswörtern gemeint ist oder neue Regeln bei der Abfrage aus dem Polizeiinformationssystem, wäre das eine etwas eigenartige und verfehlte Reform. Ein Neustart oder ein „Reset“, wie Innenminister Beuth es ankündigte, könnte damit eingeleitet werden, in dem Beuth sein Amt einer kompetenteren Person überlässt. Und wie treten die Grünen, die seit 2014 Koalitionspartner der CDU in Hessen sind auf? Was die Ökopartei für eine „Leistung“ abgibt, mag für manche Beobachter beschämend wirken. Die so kritikfreudigen Grünen sind erstaunlich still in Hessen. Doch für welchen Preis? Der Postmaterialismus sowie die angeblichen ethisch-moralischen Ideale der Grünen gehören der Vergangenheit an. Das Weiterregieren um jeden Preis als Juniorpartner der „schwarz-grünen Koalition 2.0“ wiegt möglicherweise schwerer als die eigene Glaubwürdigkeit und die vermeintlichen Anliegen der Partei. Kurz gesagt: Hessen benötigt einen wirklichen Neuanfang.
Yasin Baş ist Politologe, Historiker, Autor, freier Journalist, Übersetzer und Berater. Zuletzt erschienen seine Bücher: „Islam in Deutschland – Deutscher Islam?”, „nach-richten: Muslime in den Medien” sowie „Muslime in den Medien 2018″.